02/07/2024 0 Kommentare
Berliner Stadtlabor: Hinter all diesen Fenstern
Berliner Stadtlabor: Hinter all diesen Fenstern
# THEOLOGIE DER STADT
Berliner Stadtlabor: Hinter all diesen Fenstern
Berichte aus dem Stadtlabor: von Christopher Zarnow
Ich sitze in der Ringbahn. Es ist abend, ein langer Tag, ich will nach Hause. Straßen, die den Feierabendverkehr durch die Stadt pumpen, Häuser, Wohnblocks ziehen an mir vorbei. Auch meine alte Wohnung. Ich versuche, einen kurzen Blick durchs erleuchtete Fenster zu erhaschen: Wer wohnt dort jetzt? Wie sieht der Balkon aus? Viel ist nicht zu erkennen außer einem Kasten Bier und einer erfrorenen Pflanze.
Ich mag diesen Blick aus der Bahn in die Häuser hinein.Er hat etwas leicht Voyeuristisches, aber bleibt doch zu flüchtig, um wirklich etwas auszuspähen. Geschützt durch den räumlichen Abstand und durch das Glas der Zugfensterscheibe zieht das Leben der anderen wie in einem Puppenhaus an mir vorbei. Ich erhasche einen Einblick in Wohnzimmer, Arbeitszimmer, Küchen. Ein bisschen fühle ich mich dabei selbst wie ein Gott. Ich sehe gleichzeitig und auf einen Blick, was hinter all diesen Fenstern vor sich geht: wie gegessen und auf dem Balkon frierend geraucht wird, wie die Glotze bläulich flimmert, wie die Lichter angehen und erlöschen.
Der britische Ethnologe Daniel Miller hat eine Feldstudie in einer Straße Südlondons durchgeführt. Er besuchte die Menschen in ihren Wohnungen, um zu sehen, wie sie leben. Seine Expedition wurde zu einer Weltreise. Jede Wohnung entpuppte sich beim genaueren Hinschauen als ein Mikrokosmos – mit eigener Ordnung, eigenem symbolischen Zentrum, eigenen Tabuzonen.
Hinter einem dieser Fenster liegt meine eigene Wohnung. Ich schließe auf, knipse das Licht an – und bin wieder ganz Mensch. Zusammen mit anderen Menschen, die über, unter und neben mir wohnen, die ich nicht sehen, aber hören kann. Mit denen ich klarkommen muss.
Die Ringbahn fährt an meinem Zimmer vorbei. Ich sehe Menschen auf ihrem Weg durch die Stadt. Für den Bruchteil eines Augenblicks meine ich, in ein anderes Gesicht zu schauen.
Foto: Rainer Sturm / pixelio.de
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Orte zwischen Lärm und Idylle, Klassik oder Punk: In diesem Blog schreiben geborene und gefühlte Berlinerinnen und Berliner über das, was zwischen Himmel und Straße liegt, die kleinen und großen Fragen des Lebens in einer Großstadt. Wir versprechen Ihnen einen Kiez-Blick, der Ihre Sinnfragen auf eine Reise quer durch Berlin schickt. Reisen Sie mit?
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